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Tal

vier-Männer Dokument

Der Schlüsselbrief

Miriam Loewy

Tal


Tal ist tot. Dabei war er so gesund. Er war nicht nur gesund, er lebte auch gesund und predigte Gesundheit. Manchmal sagte er, "ich rieche es den Menschen an, daß sie Fleisch essen, sie stinken", er war Vegetarier.

Tal hieß ursprünglich gar nicht Tal, er hieß Lajusz Tauberg. Als er aus Üngarn in Israel ankam, nach dem zweiten Weltkrieg, gab er sich einen hebräischen Namen.

Tal heißt auf Hebräisch Tau, und Lajusz verwandelte er in Lali. Er hieß also Lali Tal und wir nannten ihn Tal.

Schön war er nicht. Er war klein und stämmig, seinem gedrungenen Körperbau nach hätte er einen Buckel haben können, aber er hatte keinen, seine Hände waren riesig und rissig, viel weißes Haar umrahmte sein grobes Gesicht, tiefe Falten zerfurchten seine Gesichtszüge, aus denen klare blaue Augen die Ümgebung aufmerksam beobachteten.

Er war kein Totengräber, obwohl man es hätte denken können, er war ein mittelmäßiger Maler und Bildhauer, und er lebte in der nordisraelischen Künstlerstadt Zfat.

Tal war, wie er selbst sagte, ein Analphabet in mehreren Sprachen - ein Ergebnis der Shoa, die er sehr jung überlebt hat. Er war zwölf Jahre alt, als der Krieg vorbei war. Er ist nie wieder zur Schule gegangen. Er beherrschte die ungarische, die hebräische, die deutsche und die englische Sprache in Wort, aber nicht in Schrift.

So kam es, daß nie jemand von ihm einen Brief erhielt, er korrespondierte auf Kassetten, die er beiderseitig besprach.






Kunstvoll waren seine Gedanken und Berichte von aktuellen Nachrichten, klassischer Musik oder Kabaretteinlagen, die er aus dem Radio aufgenommen hatte, unterbrochen.

Auf einer dieser Kassetten, die er mir vor vielen Jahren schickte, monierte er die Tatsache, daß ich meinen Absender nie auf meine Briefe schreibe. "Es hat einen Grund" klingt seinen Stimme vom Band, "daß ich mich über Briefe ohne Absender ärgere: Ich hatte eine Cousine, sie war eine schöne, kluge Frau, und ich mochte sie sehr.

Sie hat, noch vor dem zweiten Weltkrieg, einen christlichen Üngarn geheiratet - eine entsetzliche Messalliance zu der Zeit." Im Hintergrund seiner Stimme auf der Kassette ist Straßenverkehr, Feuerwehr, Motorengeräusch zu hören, ich schließe daraus, daß er in seinem schönen kleinen Garten in Zfat saß, als er das Band besprach. Seine Stimme fährt fort "Nach dem zweiten Weltkrieg traf ich diesen Ehemann meiner Cousine in Budapest auf der Straße. Er erzählte, wie er meine Cousine in der Nazizeit versteckt und beschützt hat, es ginge ihr gut, sagte er, er beschwor mich aber, nicht den Versuch zu machen, sie zu finden, denn sie lebte noch immer als Christin getarnt in einem kleinen Dorf." Tal atmet schwer auf der Kassette, es ist fast ein Stöhnen, und erzählt weiter: "Ich versprach, keine Kontaktversuche zu unternehmen und hielt mich an mein Versprechen. Viele Jahre später erfuhr ich, daß meine Cousine und ihr Mann nach Breslau gezogen sind, wo er als Dozent an einer Hochschule arbeitete. Er war" seine Stimme senkt sich, er hustet, "nein, im Ernst, der Mann meiner Cousine war wirklich ein ausgezeichneter Mensch, nur ihm hatte sie ihr &Üuml;berleben zu verdanken.

Eines Tages bekam ich einen Brief von meiner Cousine - ohne Absender. Als ich sie über viele Ümwege fragen ließ, warum sie keinen Absender auf ihre Briefe schreibt, teilte sie mir mit, daß sie nicht möchte, daß jemand aus ihrer Ümgebung in Breslau wüßte, daß sie mit Juden korrespondiert." Seine Stimme auf der Kassette räuspert sich verärgert, er fügt ein "stell Dir das mal vor" hinzu.

Seine Aufnahmen sind kleine, aktuelle, bizarre, historische Kunstwerke, die mich noch heute, nach seinem Tod, in eine andere Welt tragen. Er nannte seine Kassetten seine Memoiren, die gesprochenen Erinnerungen.





Zfat, heute ein kleines Künstlerstädtchen über Tiberias und dem See Genezereth, war am Anfang des Jahrhunderts neben Jerusalem der Ort, wohin es orthodoxe Juden aus Europa hinzog, die die Bibel und die jüdische Mystik lernen und lehren wollten.

Erst waren es wenige Familien, die sich dort angesiedelt und Synagogen und Toraschulen errichtet haben. Nach und nach zogen mehr Rabbiner und Religionsschüler hin.

Erdbeben und Kämpfe mit den Arabern, die in Zfat und in den umherliegenden Dörfern lebten, zerstörten die Stadt von Zeit zu Zeit, sie mußte immer wieder erobert und neu aufgebaut werden, die orthodoxen Juden mußten einige Male fliehen, sie kamen aber immer wieder zurück, bauten ihre Ümgebung wieder auf und fuhren mit ihrer Lehre und mit ihrem Lernen fort.

Viele Ruinen zeugen noch heute wie Narben von alten Wunden, die ihr in den Kämpfen mit den umliegenden arabischen Dörfern geschlagen wurden. In den kleinen Gassen der Altstadt, die sehr hell ist und die nach den Pinien auf den umliegenden Hügeln riecht, spiegelt sich das gleißende Tageslicht und läßt die Häuserwände, die aus großen Steinblöcken bestehen, noch größer erscheinen. In einem Teil dieser Altstadt haben sich mit der Zeit Maler, Bildhauer, und Kunstateliers jeder Art niedergelassen, Karikaturisten, Druckerwerkstätten und Dilettanten aller Kunstrichtungen.

Kletzmerfestivals werden zweimal im Jahr abgehalten und verwandeln diesen schönen, verschlafenen Ort jeweils für eine Woche in einen Tummelplatz für Touristen und Menschen aus allen Landesteilen. In diesen zwei Wochen ist für die Künstler, die in dieser Stadt wohnen, Hochsaison, die Zeit, auf die sie sich im Winter vorbereiten.








Hier also lebte Tal, mitten im kleinen Zentrum, das um einen alten Brunnen gebaut ist, in einem großen Gewölbe, in das man vom Hauptplatz hinabsteigen konnte und das von seinen Kunstwerken, liegenden Frauenfiguren, geigespielenden Rabbigruppen, kleinen Aquarellen und großen Ölbildern gefüllt war. Im hinteren Raum, in dem sich eine alte abgeschabte Ledersitzecke und eine kleine Küche befanden, bewirtete Tal seine Gäste mit allerlei Gesundheitsteesorten und makrobiotischem Gebäck.

Durch einen hellen kleinen Hinterhof mußte man gehen, wenn man zur Toilette wollte, in eine angebaute Hütte.

Tal inszenierte sich selbst fast noch mehr als seine Kunstwerke, seine Gesundheitsmaximen waren ihm wichtiger als der Verkauf seiner Bilder; er war ein Meister der Konversation, die nur von ihm bestimmt war.

Als wir, eine Gruppe israelischer Journalisten, ihn entdeckten, war er gerade 60 Jahre alt, sehnig und lebensfroh, wie ein Triatlonsportler bei der fortwährenden Vorbereitung auf seine verschiedenen Sportarten. Er hatte mehrere Lebensgefährtinnen, keine von Ihnen war älter als 25 Jahre. Er gängelte sie mit seinen großen groben Händen, zart, faßte sie an die Hüfte oder an die Schulter und stellte direkte Fragen, wie "mit den Hormonen alles in Ordnung, ja?"

Ünd trotz dieses vitalen künstlerischen Scheins lag immer eine Schwere in der Luft, etwas war düster. Die von seinen Statuen und Bilder ausgehende helle Buntheit konnte nicht darüber hinwegtäuschen. Wie ein Derwisch bewegte sich Tal um sich und seine Gäste, kaum daß es eine Möglichkeit gab, ihn kennenzulernen und ihm näherzukommen.

Die Neugierde, die mich dazu trieb, ihn mal beruflich und in Begleitung von Touristen, ein anderes Mal privat zu besuchen, wurde nicht befriedigt. Er wich aus, er mochte mich nicht, so schien es. Seine Geschichten konnten mich nicht ablenken, er wußte, daß ich wissen wollte, wer er eigentlich ist.

Er ging dazu über, mich aggressiv zu begrüßen: "Wie kannst Du als Jüdin in Deutschland leben? Wie kannst Du in dieser Sprache schreiben und lesen? Das ist die Sprache unserer Mörder, nicht mehr und nicht weniger!"





Er gab nichts von sich preis, weder über sein Leben in Israel noch in Üngarn. "Du mußt abnehmen und aufhören zu rauchen, Du wirst bald sterben, wenn Du so weiter machst", sagte er bei meinem nächsten Besuch und widmete sich dann aufmerksam und seine Rolle perfekt beherrschend den mitgebrachten Besuchern.

Es gab etwas Neues in seinem Atelier, Schmuck aus Silber, Broschen und Ohrringe, eher Kunstgewerbe als Kunst, aber die Dinge waren leicht verkäuflich und erforderten bei der Herstellung keinen großen Aufwand.

Zweieinhalb Jahre unserer seltsamen Bekanntschaft wußte ich nichts über ihn, und man erzählte sich auch nichts hinter seinem Rücken, weil niemand etwas über ihn wußte, man war gezwungen, ihn so zu nehmen, wie er sich darstellte, und diese Selbstdarstellung war so perfekt, daß nur sehr aufmerksame Beobachter die Risse in ihr bemerkten.

War er ein häßlich gewordener alternder Prinz, oder ein schöngebliebener Gnom....er blieb mir ein Rätsel.

Wenn er erzählte, erzeugte er einen Sog, der seine Zuhörer hypnotisierte, wie ein Spinngewebe, kunstvoll und dicht geknüpft, er wurde nie müde es zu spinnen, und je mehr er es tat, desto stärker spürte ich , wie er sich zurückzog und den Abstand zwischen sich und den Besuchern vergrößerte.

Er lud seine Gäste oft zum Rundgang durch die kleine Stadt ein, und er kannte die Geschichte jedes Steines in Zfat. So erfuhr ich, daß alte jüdische Grabsteine während der türkischen Besatzungszeit als Baumaterial in die Häuser eingebaut wurden, was immer noch an einigen Häusern sichtbar ist, ich werde heute noch darüber wütend.

Er schob seinen Besuchern seine Lebensphilosophie unter, er führte seine sehr schönen jungen Freundinnen vor, und keiner von uns wußte, wovon er lebte, denn seine Kunst verkaufte sich schlecht, die Leute kamen der Geschichten wegen.

Als ich, enttäuscht von dem sich ewig wiederholenden Schauspiel beschloß, ihn nicht mehr zu besuchen, rief er mich an: "Es gefällt mir nicht, daß Du nicht mehr kommst, weil es mir, wenn Du hier bist , gefällt, wie Du versuchst hinter meine Worte zu hören. Ich vermisse das."



Seine Stimme klang entschlossen aus dem Telefonhörer, und ich war so überrascht, daß ich versprach , so bald wie möglich zu kommen. Es war ein guter Anfang, daß Tal mich sehen wollte, vielleicht würde er jetzt Mut fassen und ein wenig von sich preisgeben...

Als ich eine Woche später sein Atelier betrat, rief er aus der Küche, "Komm herein, wir wollen gerade Tee trinken".

Auf dem Tisch in der kleinen Sitzecke stand eine Schale mit Granatäpfeln, Papayas, Bananen und Weintrauben, wie ein Stilleben, zum Malen hergerichtet; braune Tonkrüge und eine silberne Teekanne, aus der ein feiner Dampfstrahl in die Luft stieg.

Schimon, Tals Adlatus, saß strahlend in der Ecke und machte mit der Hand eine freundliche Setzdichbewegung.

"Wir feiern meinen Ausstieg aus der Zahntechnik", sagte Schimon, der schlanke, braunhäutige 30jährige Marokkaner. "Ich habe beschlossen, auch Bildhauer zu werden, was noch fehlt, wird mir Tal beibringen; in der Zahntechnik habe ich genug mit Gipsformen zu tun gehabt. Wenn ich Dir die Figuren, die ich bis jetzt gemacht habe, zeigen würde, würdest Du Dich fragen, wer Michelangelo überhaupt war".

Sein Vater hat ihn rausgeschmissen" fügte Tal nahtlos hinzu, "er hat tatsächlich mit der Bildhauerei begonnen, und da seine Eltern orthodox sind, und es nach der strengen Religion verboten ist, sich ein Ebenbild zu machen, ist er von zu Hause rausgeflogen und wohnt jetzt vorübergehend bei mir".

Ich setzte mich zu den beiden.

Sie sahen mich erwartungsvoll an, als wollten sie einen Kommentar zu ihren Mitteilungen, ich fühlte mich bedrängt, verschränkte meine Arme und sah sie fragend an.

Schimon nahm genußvoll schlürfend einen Schluck Tee und blitzte mich mit seinen schwarzen Augen an. "Siehst Du, jetzt bin ich 30 Jahre alt und beginne eine neue Karriere. Ich habe viel Geld mit der Zahntechnik gemacht, ich kann es mir leisten. Ünd notfalls werde ich den Leuten in Schwarzarbeit und privat ihre Gebisse richten."






"Ünd was ist mit Deinen Eltern?" fragte ich. "Mein Vater ist sehr fromm. Als er die erste Figur gesehen hat, die ich gemacht habe, es war eine kleine Frauenstatue, ging er in mein Zimmer, wortlos, packte meinen Koffer und zeigte mit einer entschiedenen Handbewegung auf die Tür, - raus,- sagte er. - und wenn Du Gott und unsere Religion wiedergefunden hast, kannst Du wiederkommen.- Meine Mutter stand klein und hilflos neben ihm und weinte." Er machte eine kleine Pause, beugte sich nach vorn und sagte:

"Ich kann mich doch nicht ein Leben lang nach den Alten richten, im Ernst". Tal lief unruhig zwischen Küche und Atelier hin und her und murmelte "ja, wen die Kunst erwischt...".

Ich saß immer noch mit verschränkten Armen in der Sitzecke, "Tal", sagte ich, setz Dich endlich hin und komm zur Sache. Warum hast Du mich eingeladen?"

Tal machte eine beschwichtigende Handbewegung und sagte, "Schimon weiß Bescheid, er weiß, daß wir gleich gehen, in mein Paradies". "Wohin?" fragte ich. "In mein Paradies". Tal stieg in seine Sandalen, steckte sein Hemd in die Jeans und sagte "jala", was auf Arabisch "los, mach schon" heißt.

Wir gingen über den kleinen Vorplatz mit dem Brunnen den Zfathügel hinauf, wo die Stadt in einen Pinienhain übergeht. Ganz oben auf dem Hügel stehen zwei verwitterte Holzbänke auf einem Teppich aus Piniennadeln.

Die alten harzduftenden Pinien bewegen sich leise knarrend im Wind. Das ist Tals Paradies.

Bis auf das Knarren der Bäume war es vollkommen still, wattig still, wie in einem deutschen Dorf, tiefnachts, wenn es gerade geschneit hat und sich nichts bewegt. Die Luft und der Himmel wußten Tals Geheimnis.

Wir setzten uns auf eine Bank, ich spielte ungeduldig mit meinen Füßen in den Piniennadeln, ich sah Tal nicht an und erwartete gespannt die Antwort auf eine Frage, die ich ihm nie gestellt habe.







"Als ich zwölf war", begann Tal schleppend, als trüge er das Weltall auf seinem Rücken, "wurden wir Auschwitzkinder in einen Viehwaggon getrieben, keiner sagte uns warum, und keiner sagte uns, wohin die Fahrt gehen sollte. Ein hagerer, vielleicht 40-jähriger SS-Offizier trieb uns an. Seine gellend panische Stimme und seine Hektik verrieten mehr als die übliche Brutalität. Er schrie, seine Stimme überschlug sich, er trat und schlug nach uns, mal mit seinem Gewehrkolben, mal mit den Fäusten, als würde er selbst getrieben. Ich hatte Angst, fürchterliche Angst. In dem Viehwaggon stank es nach Kot und Ürin, einige Kinder weinten, riefen nach ihren Eltern und nach Gott. In der Dunkelheit dieses Viehwaggons wußte ich plötzlich, daß eine Ameise, eine Fliege, ja eine Kakerlake freie Geschöpfe waren, im Vergleich zu mir. Ich vergesse dieses Gefühl der Verlassenheit und Bedeutungslosigkeit niemals".

Tal stand auf, ging ein paar Schritte hin und her und wiederholte: "Mein Leben hatte keine Bedeutung, es gab niemanden mehr, den es interessierte, ob ich lebte oder nicht, es gab niemanden mehr, der mich hätte beschützen können."

Tal schwieg eine Weile. Aus diesem paradiesischen Ort waren Farben und Gerüche verschwunden, die Gegenwart zählte nicht mehr.

Tal saß neben mir mit aschgrauem Gesicht, ein alter müder Mann, dessen letzter Lebensfunke nur diese Erinnerung bewahrte, sonst nichts.

Sein Blick hing orientierungslos in seinen Augen, ihm schien die Kraft zu fehlen, auch nur einen Finger zu bewegen. "Laß," sagte ich zu Tal, "erzähl nicht weiter. Es zerstört Dich sonst."

Tal preßte seine groben Bildhauerhände auf sein Gesicht. Er hörte mich nicht, er war in jenem Frühjahr 1945 im Viehwaggon.

Gefühle, die mich schon als Kind überkamen, als meine Mutter und meine Großeltern von ihrer Vertreibung und von ihrem Entkommen erzählten, hier waren sie wieder da, auf dem Zfatberg, in Tals Paradies. Es ist eine Mischung aus Hilflosigkeit und Wut, Gefangenschaft im totalen Ausgeliefertsein, ohne die Möglichkeit, das, was geschehen ist, ungeschehen zu machen.

Das ist das Erbteil, das unsere Eltern uns hinterlassen haben, mit dem wir leben, ob wir wollen oder nicht.


Es gehört zu unserem Leben, auch wenn wir nicht dabei waren, ja damals noch nicht einmal geboren waren.

"Wir fuhren lange Zeit, sehr lange Zeit," setzte Tal seine Erinnerung unvermittelt fort, wie unter einem Zwang, nicht an mich gerichtet, in eine Ferne sprechend, "ich hatte kein Zeitgefühl mehr, ich wußte nicht, ob Tag oder Nacht war".

Er merkte nicht, daß ich es bereute, ihn durch meine Hartnäckigkeit dazu gebracht zu haben, in seine gräßliche Vergangenheit einzutauchen. Ich wußte, daß ich ihn nicht aufhalten konnte. Das Erzählen mußte zu Ende gebracht werden. Ich hatte Angst um Tal.

"Irgendwann irgendwo blieb der Zug stehen, mitten auf der Strecke", sagte Tal, "wir hörten Sirenengeheul und Geschrei, die Türen wurden aufgerissen. Die SS-Leute brüllten uns an, sofort den Zug zu verlassen. Wir stürzten ins Freie, die Beine knickten uns weg, wir taumelten und hielten uns aneinander fest.

Einige Kinder blieben leblos im Dreck des Viehwaggons". Tal sieht mit weitaufgerissenen Augen durch mich hindurch. "Dann hörten wir die Flugzeuge, der Zug wurde von alliierten Fliegern angegriffen. Plötzlich lag der hagere SS-Offizier blutüberströmt neben mir, neben den Schienen auf der Erde.

Er konnte sich offensichtlich nicht rühren. Mit einer kleinen Handbewegung winkte er mich zu sich."

Wieder versank Tal in Schweigen. Ich überließ ihn seinen Gedanken und sah auf die Stadt Zfat hinunter. Wieviel solcher Schicksale sind in dieser Stadt zu finden, in anderen Städten, im ganzen Land? Dieses schöne, lebendige, schwierige und manchmal unerträgliche Israel, voller Tals, errichtet über einem Abgrund.

Dann wieder Tals Stimme: "Ich bückte mich über ihn, er flüsterte angestrengt und zeigte auf die Brusttasche seiner Üniformjacke, gib mir, gib mir, sagte er. Ich holte aus der Tasche eine kleines schwarzweißes Foto, so eins mit schmalem weißen gewellten Rand. Auf dem Bild waren unter einer Birke eine Frau und zwei kleine Kinder zu sehen. Seine Frau und seine Kinder. Ich hielt ihm das Bild ganz nahe vor die Augen, meine Hand zitterte, er sah das Bild eine Sekunde lang an, dann fiel sein Kopf zur Seite."



Es ist gesagt, jetzt ist er durch die Geschichte durch, dachte ich und lehnte mich auf der verwitterten Bank zurück. Tal sah mich wiederkehrend an, gegenwärtig und fragend. "Du hast ihm tatsächlich das Bild gezeigt?" fragte ich. In seinem Bericht hatte er mehr verschwiegen als erzählt.

"Ja," sagte er zögernd, "manchmal glaube ich es selbst nicht, aber ich habe offensichtlich seinen Wunsch erfüllt. Die Frau auf dem Bild war blond, mit halblangen gelockten Haaren, ein braves Gesicht. Was hat sie von den Heldentaten ihres Mannes gewußt? Hat sie manchmal Pakete mit Sachen bekommen, die den Kindern von Auschwitz weggenommen wurden, als Geschenke für die beiden blonden Kinder auf dem Bild?"

Tal schauderte es bei dem Gedanken, er schüttelte den Kopf. "Vielleicht hast Du einfach seinen Befehl befolgt, wie Du es gewohnt warst", schlug ich vor. "Nein, das war es nicht", sagte Tal, "er war erledigt, am Boden, konnte mir nichts mehr tun". "Also wolltest Du einem Sterbenden nicht den letzten Wunsch verweigern", versuchte ich es wieder.

"Ich, der Zwölfjährige, sollte einem Monster, das Kinder ohne jede Gefühlsregung in den Tod schickte, ohne je nach ihren Bedürfnissen zu fragen, ich sollte ihm seinen letzten Wunsch erfüllen? Hältst Du das für möglich?" Tal war empört, sein Gesicht war rot vor Zorn. "Ich weiß es nicht", beschwichtigte ich ihn, "vielleicht hast Du so reagiert, weil Du noch ein Kind warst."

"Kann sein," Tal starrte in die Pinienwipfel, "ich glaube, ich hatte keine Rachegefühle, ich fühlte mich nur unendlich verloren. Später, viel später, als ich erwachsen war, habe ich es bedauert, die Möglichkeit verpaßt zu haben, es ihm heimzuzahlen. Je älter ich wurde, desto klarer wurde mir, was dieser Mann damals von mir verlangt hat. Er und seinesgleichen haben meine Eltern und Geschwister umgebracht, sogar die Fotos vernichtet, die ich noch bei mir hatte, als ich ins Konzentrationslager kam. Sie haben mein Gedächtnis ausgelöscht, mich selbst auf die Todesbahn gebracht, und er verlangt von mir, daß ich ihm seine Familie zeige...." Tals Stimme versagte, er griff mit beiden Händen in seine Mähne, hielt seine Kopf, als wollte er einen irrsinnigen Schmerz eindämmen und fiel wieder in sich zusammen.



Wir saßen noch eine halbe Stunde auf der verwitterten Bank in seinem kleinen Paradies auf dem Zfathügel und ließen das Schreckliche, das Ünbeschreibliche langsam verfliegen, in die blaue Luft, in die Pinien, in die Erde, Minute für Minute, immer ruhiger werdend.

"So," sagte Tal plötzlich, schlug sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel, daß es knallte. "Jetzt gehen wir wieder ins Atelier und sind die Menschen, die wir heute sind, und danken Gott, daß wir nicht zu Tieren geworden sind, in Ordnung?"

"Geh Du schon vor", sagte ich, "ich bleibe noch ein wenig und komme dann nach".

Ich sah ihn den Weg zwischen den Pinien hinuntergehen und zwischen den ersten Häusern des Städtchens Zfat verschwinden. Sein Gang war wieder federnd, er bereitete sich darauf vor, Gesundheit und Fitneß zu predigen und nebenbei einige seiner Bilder uns Skulpturen zu verkaufen.

Nun kannte ich also die Geschichte dieses nach außen hin geschichtslosen Menschen, der seine Fassade bis zu seinem unerwarteten Tod weiterhin aufrechterhalten sollte.

Ich ging ihm langsam nach. Auf seine ungelösten Fragen wußte ich keine Antwort. Aber auf irgendeine nicht begründbare Weise war mir klar, daß die Dinge schlimmer stehen würden, das Ünglück in Tals Leben größer wäre, wenn er damals anders gehandelt hätte.

Als ich das Ateliergewölbe betrat, rief Tal mir aus seiner kleinen Küche zu: "Mädchen, Du rauchst ja schon wieder, weißt Du nicht, was Du Dir damit antust?" Die Dämpfe irgendeines ekelhaften Gesundheitstees durchzogen den Raum. Eine seiner jugendlichen Freundinnen hatte sich angesagt, Tal wirkte besonders aufgekratzt.

Tal ist tot, dabei war er so gesund...


ENDE