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vier-Männer Dokument

Der Schlüsselbrief

Miriam Loewy



Der Schlüsselbrief

Brief einer jüdischen Großmutter an ihren Enkel

Berlin im September 1999



Musik: Dritter Satz aus der1. Sinfonie in D-Dur von Gustav Mahler


Am Anfang und am Ende und wo die Regie im Text eine Unterbrechung will.



Heute geht es mir darum, Dir aus einem Paket einen Brief zu machen. Das scheint unmöglich zu sein, denn augenscheinlich geht in ein Paket viel mehr hinein als in einen Brief.

Oder anders, alles, was in einem Brief ist, sind Worte und erst durch das, was Du Dir vorstellen kannst, werden sie zu Geschichten, zu Menschen, zu Gegenständen, eine raffinierte Art von Paket also.

Der Mann, der die Musik komponiert hat, die Du anfangs gehört hast, Gustav Mahler,

ist im vorigen Jahrhundert in Österreich geboren worden, mehr als hundert Jahre bevor Du in Berlin geboren wurdest. 85 Jahre nach Gustav Mahlers Geburt in Österreich bin ich in Palästina geboren worden, damals gab es Israel noch nicht. Drei Jahre nach meiner Geburt, also 1948, wurde aus einem Teil Palästinas Israel. Aus der schönen alten heiligen Stadt Jerusalem komme ich.

Obwohl diese alte Stadt 4000 Kilometer von hier entfernt ist, bin ich Deine Großmutter geworden, hier in Berlin...

Das ist in vielerlei Hinsicht ein Wunder.

Du bist am Ende des letzten Jahrhunderts des zweiten Jahrtausends zur Welt gekommen und wirst deshalb ein Mensch des dritten Jahrtausends sein. Dein Großvater und ich dagegen gehören dem Ende des zweitens Jahrtausends an und wir hoffen ein wenig in Dein Jahrtausend, das dritte hineinzuleben, damit Du uns soviel wie möglich danach fragen kannst, was es mit dem Ende dieses Jahrhunderts und dieses Jahrtausends überhaupt auf sich hatte, denn es war turbulent...




Schon am Anfang Deines Lebens hast Du den Eindruck gemacht, daß Du mehr wissen willst, als wir Dir erzählen können. Dein liebstes Schlaflied war die Marseillaise, die französische Nationalhymne, die aus der Großen Revolution stammt, in der es hoch herging. Die Marseillaise war neben Frere Jacques die einzige Melodie, mit der Dein Großvater Dich in den Schlaf wiegen konnte, in der Urzeit Deines Lebens, ganz zu Anfang, als Du den Busen Deiner Mutter und die zärtlichen Hände Deines Vaters noch konturlos auf Deiner Haut spürtest und sie erst langsam Formen bekamen.

Das jüdische Neujahr steht vor der Tür, meine Zeitzählung wird schon 5760 sein, wenn Deine Zeitzählung das Jahr 2000 einläuten wird. In Jerusalem wird das Neujahrsfest 5760 mit Danksagungen, Gebeten und Familienessen gefeiert werden, nicht so lärmend wie Sylvester. Am Ende des familiären Festmahls wird ein Granatapfel aufgeschnitten und ein Segen über alle Anwesenden ausgesprochen werden:

Ihre weiteren Lebenjahre mögen so süß und würzig sein wie die Kerne des Granatapfels.

Das wünsche ich Dir auch.

Gleich 10 Tage später wird in Israel dann Jom Kippur gefeiert: Der Tag der Buße, ein Fastentag, ein Tag, in dem wir Juden Gott darum bitten, unsere Sünden aus dem großen Buch zu streichen, uns gegenseitig einen „guten Stempel“ eben in diesem Buch wünschen, und ein Tag, in dem Entschuldigungen und Vergebungen ausgesprochen und angenommen werden müssen, damit alles von neuem beginnen kann. In Jerusalem wird kein Auto fahren, kein Flugzeug landen, in Haifa kein Schiff andocken, die Straßen werden motorenlärmfrei sein, -unheimlich- und viele Kinder werden mit ihren Fahrrädern draußen sein, während die Eltern und Familien fasten, ruhig in ihren Wohnungen sitzen, der vielen Toten gedenken, die in jeder Familie, in jedem Volk, in jeder Geschichte vorkommen, aber ganz besonders in diesen Familien.

Die Seejungfrau aus rotem und blauen Filzstift über der Badewanne, genau wie das Punktpunktkommastrichgesicht auf den Kacheln der Küchenwand, sind immer noch da, sie warten auf Dich, obwohl Du heute wahrscheinlich nichts mehr damit anfangen kannst. ‘Peter und der Wolf’ liegen zwischen den Buchdeckeln verstaubt im Regal, wie der kleine rote Ball in der Zimmerecke und die vielen kleinen glitzernden Autos in der Kiste im Keller. Unser vieles Duschen hat die Seejungfrau verblassen lassen, aber sie ist noch da.

Das Punkkommastrichgesicht in der Küche hat ein paar Fettspritzer abbekommen und guckt schräg.




Das waren die ersten Figuren, die Du gemalt hast. Ein wenig geholfen haben wir Dir dabei schon. Aber so hat es angefangen, bei den Urmenschen.

Sie wohnten damals in Höhlen, und sie bemalten die Wände der Höhlen, um das, was sie malten, zu verzaubern, festzuhalten, einzusperren, damit sie darüber verfügen konnten und keine Angst mehr zu haben brauchten. Zum Beispiel malten sie Hirsche und Büffel, die sie jagen wollten, weil sie ihr Fleisch und ihr Fell brauchten, aber auch Wölfe und Löwen, damit die Raubtiere auf der Höhlenwand festgehalten wurden, unbeweglich, und ihnen nichts mehr tun konnten. Solche Höhlenmalereien sind bis heute erhalten. So hinterließen diese Menschen Botschaften, ohne schreiben zu können, weil es damals noch keine Schrift gab. Und als Du die Seejungfrau im Badezimmer gemalt hast und das Punktkommastrichgesicht auf die Küchenkacheln, warst Du noch ein Urmensch.

Jetzt werden die Tage kürzer. Man kann auch sagen, daß die Nächte länger werden.

So ist das im Herbst. Auch in diesem Herbst des letzten Jahrhunderts des zweiten Jahrtausends. Wie man etwas sagen kann, hängt davon ab, wie man die Worte zu gebrauchen gelernt hat. Die Worte zu gebrauchen lernt man lange bevor man weiß, daß sie aus Buchstaben zusammengesetzt sind. Eben genau diese Buchstaben, die Dich jetzt, wenn Du in die erste Klasse kommst, ärgern werden: Du wirst sie Dir erobern müssen. Es sind 26 Stück, die sich sehr voneinander unterscheiden, und weil man sie in Büchern anders schreibt als in der Handschrift, werden aus den 26 Buchstaben glatt 52.

Das Schreiben und Lesen sind die ersten Schlüssel in die Welt, die man als Kind in die Hand bekommt und in den Kopf. Diese Schlüssel sind so groß, daß man sie gar nicht mehr sieht, wenn man sie hat. Nur am Anfang kommen sie einem schwer und unförmig vor, aber das gibt sich.

Wenn Du Dir diese beiden Schlüssel endlich erobert hast, so als ob Dein Kopf sie verschluckt hätte, weil sie nicht mehr schwer und unförmig sind, wirst Du spüren, daß es die Schlüssel zu Deiner ersten großen Freiheit sind.

Der Freiheit, ein Buch zu öffnen, zum Beispiel ‘den Kleinen Prinzen’ und schon bist Du unterwegs, von Wort zu Wort und von Ort zu Ort, bei verschiedenen Menschen und Tieren und sogar bei einer Rose.

Auch das ist ein Wunder.





Die Sprache, die Buchstaben, in denen ich Dir schreibe, habe ich sehr spät gelernt, da war ich mehr als doppelt so alt wie Du. Meine Schlüssel zu den Büchern sahen ganz anders aus, es waren 22 Stück, und auch hier muß man verdoppeln, weil auch sie gedruckt und zum Lesen anders sind als zum Schreiben. Also die 44 Buchstaben, die ich lernen mußte, waren anders unbequem und zäh als Deine, weil sie Hebräisch sind, die Sprache, die man in Jerusalem spricht. Und diese Sprache liest man von rechts nach links, nicht wie bei Dir von links nach rechts. Es gab den ‘kleinen Prinzen’ natürlich auch auf Hebräisch und so konnte auch ich dabei sein, als der ‘kleine Prinz’ mit dem Fuchs über Freundschaft sprach...

In Jerusalem gibt es noch eine andere Sprache, Arabisch. Sie hat sogar 14 Sonnen- und 14 Mondbuchstaben, also 28, und das ist eine Sprache, die den Mond und die Sonne ganz besonders schön beschreiben kann, aber auch den ‘Kleinen Prinzen’, den viele arabische Menschen in ihrer eigenen Sprache lesen können.

Mehr als tausend Sprachen gibt es, und für jede Sprache braucht man einen eigenen Schlüssel, und jeder Schlüssel schließt das Tor zu einer anderen Welt auf.

Das sind gleich sehr viele Wunder.

Das ist noch nicht alles: Es gibt auch Schlüssel, die nicht zur Sprache gehören und keine Buchstaben sind.

Die Welten, die sie aufschließen, sind ebenso groß und ebenso vielfältig wie die Bücher.

Als Du 3 Jahre alt warst, haben wir „Peter und der Wolf“ gehört und Du hast die Bilder in dem Buch, das jetzt verstaubt, angesehen. Du hast die Flöte gehört, das war der kleine Vogel, und die Oboe, das war die Ente, und die Hörner, das war der Wolf.

Als Du die Melodie gehört hast, wußtest Du schon ganz genau, wer jetzt kommt, und Du hast vor Vergnügen gequietscht, als der schlaue Peter zusammen mit dem kleinen Vogel den Wolf gefangen hat. Damit hast Du gleich 3 verschiedene Welten betreten, die Welt der Sprache, die Welt der Musik und die Welt der Malerei.

Jede Welt hat ihren eigenen Schlüssel, bei der Musik heißt der Schlüssel ganz praktisch Notenschlüssel, und wer ihn hat, kann die Musik lesen und sie dann selber spielen.

Gustav Mahler, von dem ich Dir am Anfang erzählt habe, kannte sich in der Welt der Musik aus. Er hat den vielen Türmen und Treppen und Hallen der Musikwelt neue hinzugefügt, und das, lieber Joe, ist etwas Wunderbares: Etwas Neues machen, das es noch nicht gegeben hat, damit die Menschen alles, was sie kennen, noch einmal neu und völlig anders kennenlernen.




Dadurch merkt man, daß alles, was man für selbstverständlich hält, gar nicht so selbstverständlich ist, sondern aufregend und schön.

Also Gustav Mahler lebte im vorigen Jahrhundert, dem Neunzehnten. Er hat erlebt, wie es Sylvester 1899 ‘klick’ gemacht hat und plötzlich hat das letzte Jahrhundert des zweiten Jahrtausends begonnen. ‘Klick’ hat es natürlich nur in der Uhr gemacht, nicht im Wald oder auf dem Meer oder in der Luft.

Als die Menschen die Uhr erfunden haben, waren sie schon sehr erfahren.

Sie hatten beobachtet, daß die Sonne zu verschiedenen Tageszeiten an verschiedenen Stellen am Himmel steht und dadurch die Schatten, die wir machen, wenn wir in der Sonne stehen, je nach der Tageszeit einmal länger und einmal kürzer, einmal in die eine und einmal in die andere Richtung fallen.

Sie steckten einen Stock in die Erde, weil sie keine Lust hatten, den ganzen Tag in der Sonne zu stehen und zu beobachten, wie sich ihr Schatten veränderte. Von morgens, wenn es hell wurde, bis abends, wenn es dunkel wurde, änderte sich die Richtung und die Länge des Stockschattens.

Tag und Nacht, der Sonnenstand im Sommer und im Winter, auf- und abnehmender Mond, der Kreislauf der Planeten - alles dies wollten die Menschen verstehen und erklären. Die Dauer der einen Bewegung nannten sie einen Tag, ein anderer Kreislauf wurde ein Jahr, und die Tage mußten dann ins Jahr passen und in den Monat. Daraus entstand der Kalender, und im Verlauf einer langen Zeit gab es viele Kalender, weil jeder ein bißchen anders gerechnet hat und von einem anderen Zeitpunkt zu zählen begonnen hat. Heute richten sich die meisten Menschen auf der Welt nach dem Kalender, der das Jahr 1999 schreibt und bei dem es am 31. Dezember ‘Klick’ machen wird, und damit werden zwei Jahrtausende und 20 Jahrhunderte futsch und von der Vergangenheit aufgefressen sein und das Jahr 2000 wird auf dem Kalender erscheinen. Nichts wird sich dann verändert haben, nur eine Zahl.

Und das, lieber Joe, ist ein weiteres Wunder.

Es gibt nämlich noch eine weitere Welt, die aus Zahlen besteht und aus sonst nichts:

Wenn Du zwei Äpfel und zwei Äpfel zusammenzählst, zählst Du Zahlen und stellst Dir dabei die Äpfel vor. Wenn Du eine Milliarde Äpfel und eine Milliarde Äpfel zuammenzählst, zählst Du nur noch die Zahlen, weil kein Mensch sich eine Milliarde Äpfel vorstellen kann. 4000 Kilometer kannst Du Dir noch vorstellen, das ist die Entfernung zwischen Deinem Geburtsort, Berlin, und meinem Geburtsort, Jerusalem.



4 Milliarden Kilometer kannst Du Dir schon nicht mehr vorstellen, und im Weltraum ist das ein Klacks, weil die wirklich großen Entfernungen nicht mehr in Kilometern, sondern in Lichtjahren gemessen werden. Ein Lichtjahr ist die Entfernung, die das Licht in einem Jahr zurücklegt. Das Licht ist das schnellste, was es auf der Welt gibt, unvorstellbar schnell.

Du wirst Dich fragen, warum sich das Licht bewegt, wo Du doch erlebst hast, daß das Licht einfach da ist oder weg. Die Bewegung siehst Du nicht, weil sie so schnell ist. Unser Tageslicht kommt in einem Wahnsinnstempo von der Sonne her, immer neu in Wellen. Von der Sonne zu uns braucht das Licht so gut wie keine Zeit.

Wenn aber irgendwo ein Stern, der Millionen Lichtjahre entfernt ist, längst erloschen ist, kommt sein Licht immer noch bei uns an, und wir sehen einen Stern, den es längst nicht mehr gibt.

Wenn erforscht wird, wie die vielen Milliarden Sterne entstanden sind und was sie untereinander bewegt, kann man das nur in Zahlen ausdrücken. Es gibt nichts, was die Menschen erlebt haben und was damit vergleichbar wäre, also geben sie es auf, sich ein Bild davon zu machen und vertrauen den Zahlen.

Dasselbe passiert, wenn man versucht herauszufinden, was ein einfacher Gegenstand, sagen wir eine Glasscherbe, wirklich ist. Wenn man die Glasscherbe immer weiter in ihre Einzelteile zerlegt, bis wirklich nichts mehr zu teilen geht, kommt man zum Atom, und das Atom besteht wieder aus Teilen und es ist wie eine kleine Sonne mit Planeten mit riesigen Strecken Nichts dazwischen, obwohl doch die Glasscherbe so fest ist und man sich an ihr schneidet, wenn man nicht aufpaßt. Wie diese Teile zusammenhängen und sich untereinander bewegen, kann man auch nur in Zahlen beschreiben. Vorstellen kann man es sich nicht.

Das Größte und das Kleinste in der Welt enden also, wenn man genauer hinschaut, in rätselhaften Zahlenwelten, und nichts ist mehr so, wie wir es kennen und die größten Wunder verbergen sich dahinter, und wir haben keinen anderen Schlüssel dorthin als die Zahlen.

Zahlen sind es auch, und nichts sonst, mit denen wir Menschen die Zeit einteilen, wenn wir sagen, eine Stunde ist vergangen oder ein Jahr oder jetzt wird es das Jahr 1999 sein. Nur deshalb beginnt kurz nach Deinem 6. Geburtstag das Jahr 2000, weil die Zahlen so festgelegt sind nach dem Kalender. Es ist eine Zahl, die die Menschen mit Feuerwerk und Musik feiern werden, nur eine Zahl, aber was für eine Zahl!





Auch diese Welt wartet auf Dich, die Welt der Zahlen, die auf wunderbare Weise mit der Welt der Musik verknüpft ist:

Töne, die wir als schön empfinden, müssen in bestimmten Zahlenverhältnissen miteinander tanzen. Wenn Du zum Beispiel Deinen Finger genau auf die Hälfte einer Gitarrensaite legst, geben beide Hälften einen Ton ab, der genau wie der Ton der ganzen Saite klingt, nur eine Oktave höher. Du kannst Deinen Finger auch auf eine andere Stelle legen, ein Viertel, zwei Fünftel, fünf Achtel, und jedesmal ergeben die beiden Teile der Saite andere Töne, und manche passen zueinander und wir finden sie schön, und andere passen nicht zueinander.

Man kann also statt der Notenschlüssel auch einfach Zahlen hinschreiben, und auch die Welt der Töne ist genau festgelegt und bewegt sich nach Regeln wie die Planeten und die Atome.

Die Sprache und die Zahlen sind unsere Instrumente, Zusammenhänge zu erfassen und zu beschreiben. Darüber hinaus aber gibt es so vieles, was wir nicht begreifen, was wir empfinden und erleben, wie die Liebe, die Trauer, die Wut, die Ausdauer, die Ungeduld - einiges davon kennst Du schon - es sind Geflechte in unserem Miteinander als Menschen, die sich seit Jahrtausenden wiederholen, die aber für den, der sie erlebt, immer wieder neu und faszinierend sind.

Ich bin neugierig, wie Du an all diese Zauberwelten herangehen wirst, und ich freue mich schon auf all das, was ich von Dir lernen werde.

Wenn Du groß bist, wirst Du Bücher vielleicht nicht mehr im Laden kaufen, sondern Du wirst Dir die Stellen, die Du lesen willst, aus dem Internet fischen, und Du wirst es selbstverständlich finden, Dich am Computer mit anderen Menschen am anderen Ende der Welt zu unterhalten.

Weil aber alles überhaupt nicht selbstverständlich ist, erzähle ich Dir welche Wunder nötig waren, bis der Mensch entstanden ist, der den Computer und das Internet erfunden hat.

Siehst Du, Joe, jetzt ist aus dem Paket kein Brief geworden, sondern ein Container. Es ging auch nicht anders.

Wenn Du in diesen Container genau hineinschaust, sitzt ganz in der linken Ecke Gustav Mahler und neben ihm Bruder Jakob und um sie herum liegen Noten und Notenschlüssel.







In der Mitte siehst Du Jerusalem, alt, sehr alt und sehr neu, und wenn Du Deine Nase in diese Richtung steckst, riechst Du Zedern und Pinien, und das ganz helle Material, aus dem die meisten Häuser gebaut sind, diese großen, groben Steinblöcke, nennt man den Jerusalemer Stein. Dieser dicke Stein macht es, daß es in den Häusern im Sommer nicht zu heiß wird, schon seit Jahrtausenden, und daß die Regenfeuchtigkeit im Winter draußen bleibt.

Etwas weiter oben ist Berlin mit seinen vielen Baukränen. Die kleinen Teile, die da hin- und herrasen, sind die vielen Autos, die, wie Ameisen aus Metall, Menschen von einem Ort zum anderen bringen. Das Grüne, dieser richtig dicke grüne Fleck am Rande von Berlin, das ist der Grunewald. Da haben Dein Großvater und ich uns zum ersten Mal geküßt, heimlich und gerne.

Das, was Du nicht siehst, das sind die Jahre, viele viele Jahre, die alle versuchen, in diesem Container Platz zu finden, sich geradezu drängen. Manche Jahre versuchen einen Tag herauszudrücken und nicht hereinzulassen, andere fuchteln mit Radiergummis an sich entlang und möchten am liebsten nie gewesen sein. Und wenn Du genau hinsiehst, woraus die Jahre, die Monate, die Wochen und die Tage bestehen, diese unzähligen Augenblicke, die einen aus grünem Glitzer, die anderen aus grauem Blei - das sind die Sekunden und Minuten - die sind es, die so ein Chaos anrichten, daß ich den Container nicht zukriege. Es gibt sie und es gibt sie gleichzeitig nicht. Wenn sie da sind, heißen die Augenblicke ‘das Gefühl von Sonne auf dem Bauch’, ‘die Schrecksekunde vor dem Hinfallen’ oder ‘das plötzliche Wiedererkennen’. Wenn sie vor uns liegen oder schon vergangen sind, heißen sie Minuten oder Sekunden und sie gibt es nicht wirklich, sie sind von uns Menschen erfunden, damit wir gleichzeitig sein können, zum Beispiel, wenn wir uns treffen.

Sie sind Zeitverpackungen und das Komische ist, daß sie etwas verpacken, was niemand auf dieser Welt erklären kann, nämlich die Zeit. Da ist dieses Fragezeichen, schau hin, wie gebogen es ist.

Und das Allerwichtigste, was ich Dir ins dritte Jahrtausend mitgeben will, das ist dieses kleine warme Licht, das von der Mitte den ganzen Container ausleuchtet.

Dieses kleine Allerwichtigste ist das hebräische Wort Schalom.

Einfach übersetzt heißt es Frieden, aber es ist viel mehr.






Es ist ein Frieden mit drinnen und draußen, mit vorher und nachher, mit weit und fern, mit sich und den anderen. Schalom ist der Schlüssel, den Du brauchst, um zu Dir selber zu finden, nimm ihn, teil ihn mit anderen, paß gut auf ihn auf, und sieh zu, daß er Dich nicht verliert.


ENDE