© für Text und Inhalt bei Miriam Loewy
© für Zeichnungen bei Rainer Oxfort
Cafe Pinguin

Der Markt

Liebe Zwischen den Welten

Arie, der Totengräber

Miriam Loewy


Arie, der Totengräber


Arie, der Totengräber, sah schon aus, als wäre er fünfzig Jahre alt, als ich ein kleines Mädchen war. Noch heute sieht er aus, als ob er fünfzig ist, furchtbare zeitlose fünfzig Jahre alt.

Arie ist Kucku. Jedenfalls glauben das alle Menschen in seiner Umgebung, seine Mutter ausgenommen. Kucku ist eine freundlich-volkstümliche Bezeichnung für jemanden, bei dem etwas nicht stimmt. Außer, daß Arie ein ganz klein wenig langsamer ist als andere Menschen, daß er beim Sprechen mit einem tiefen Raunen beginnt und manchmal ein wenig stottert, oder genauer sich verhaspelt, ist gar nichts so unnormal an ihm. Oder vielleicht doch:


Die tiefen Furchen in seinem groben Gesicht, Längsfurchen die Wangen herunter und Querfurchen über die ganze breite Stirn, nicht ausgeprägte Lebenslinien, sondern als hätte Gott ein zu großes Gesicht auf seinen Schädel gesetzt.. Sein Körperbau ist gedrungen, er hat immer khakifarbene Klamotten an, ein weites Hemd und eine weite Hose, immer sauber, immer frischgewaschen, einen großen Mund mit schöngeformten Lippen, derbe, kompakte Hände. Und in seinen hellen Augen ist immer eine friedliche Ruhe. Vielleicht ist es das, diese Friedfertigkeit, die nicht von dieser Welt ist, in seinen hellen Augen, die eher nach innen gerichtet sind und die Dinge etwas anders sehen als wir. Vielleicht ist es auch sein Beruf. Irgend etwas ist unheimlich an ihm.

Arie lebt bei Esther, seiner Stiefmutter. Esther ist eine runde, lebendige Diabetes-kranke jiddische Mamme. Vor vielen Jahre, als Arie noch ein Kind war, ist seine richtige Mutter gestorben und sein Vater hat Esther geheiratet und Arie mit in die Ehe gebracht. Als Aries Vater, Esthers Mann im Sterben lag, hat Esther ihm versprochen, für Arie zu sorgen, solange sie lebt.

Wenn ich an Arie denke, habe ich ein schlechtes Gewissen. Ich sehe ihn vor mir, wie er an allem Leben, das um ihn herum stattfindet, teilnimmt und doch eine Winzigkeit zurückgesetzt ist, mitgeschleppt eben. Dabei sorgt Arie für sich selbst, abgesehen vom Wäschewaschen oder Kochen, das macht Esther für ihn. Aber er arbeitet, verdient Geld, gibt der Esther den Großteil seines monatlichen Gehalts ab, und geht am Wochenende sogar in die Disco, weil sich vielleicht doch noch eine Frau für ihn finden läßt.

Mein schlechtes Gewissen kommt daher, daß ich mich gedankenlos dem allgemeinen Verhalten Arie gegenüber angeschlossen habe. In meinen Gesprächen mit ihm habe ich eine übermäßige Geduldshaltung angenommen und gar keine ernsthaften Themen mit ihm versucht.



Dabei habe ich oft daran gezweifelt, daß er Kucku ist. Es war bisweilen so ein Gefühl da, als wüßte er mehr als wir anderen, als nehme er die Dinge genauer wahr, ja manchmal sogar, als würde er uns allen unsere Arroganz verzeihen.

Arie arbeitet seit seinem vierzehnten Lebensjahr als Totengräber auf dem Friedhof der Stadt Hadera, einer der Gründerstädte in Israel. Diese Stadt liegt nicht weit vom Meer, so ziemlich auf halber Strecke zwischen Haifa und Tel Aviv.

Mit vierzehn begann er als Totengräbergehilfe zu arbeiten. Keiner von uns wagte es, ihn nach seiner genauen Tätigkeit zu befragen, nach seinen Eindrücken und Erlebnissen. Keiner von uns wußte es zu schätzen, daß dieser Junge schon in frühen Jahren, in den Jahren, in denen wir noch zur Schule gingen, für sich selbst aufkam, sein Leben bestritt.

Er hat nie in seinem Leben etwas Verrücktes getan, er hat nie geschrien, ist nie aggressiv geworden, hat keine Fratzen geschnitten; er ist nie auf jemanden losgegangen und hat sich niemals angebiedert.

Vielleicht macht er uns allen in seiner Ausgeglichenheit und Bescheidenheit Angst. Vielleicht ist die Tatsache, daß er uns so ein anspruchsloses Leben vorführt, ein Spiegel, den er uns vorhält und schon immer vorgehalten hat.

Es kann ja auch sein, daß wir auf ihn schief reagieren. Wir sind in seiner Gegenwart nicht so, wie wir sind, wenn er nicht dabei ist, er macht uns befangen, weil wir mit seiner Friedlichkeit nicht umgehen können. Und wenn er am Schabbat-Abend munter an einem vorbeigeht, und erzählt, er sei jetzt auf Brautschau und gehe tanzen, zuckt jeder von uns mit den Achseln, als seien wir alle programmiert.

Er kennt alle Ge- und Verbote des Judentums, er ißt koscher und geht in die Synagoge, er gratuliert zu Geburtstagen und kondoliert Hinterbliebenen. Er hat sogar eine Lebensphilosophie, nämlich die, daß es so kommen wird, wie der Herr es bestimmt hat, und wenn der Herr es bestimmt hat, dann wird alles gut.


Auch das kann einen nervös machen, denn wir anderen hadern mit unserem Schicksal, stellen Forderungen, nehmen uns wichtig und haben Mühe, Gott neben uns kleinen Göttern zu akzeptieren.

Aries Schwester Zila war während der Schulzeit meine beste Freundin. Sie war durch den frühen Tod ihrer Mutter ernster und verantwortungsbewußter als wir anderen; sie hat sofort nach der Beerdigung ihrer Mutter, und sie war damals erst zwölf Jahre alt, alle Aufgaben im Haushalt übernommen und Arie und den Vater versorgt.

Die Roheit, mit der wir als Kinder mit dem seltsamen Arie umgingen, hielt sich in Grenzen, war aber vorhanden. Er wurde nie in Gruppen aufgenommen, wenn es um Handball oder Fußball ging, ‘der kann das doch nicht, wir wollen ihn in der Mannschaft nicht haben’. Zila stellte sich schützend vor Arie, an sie traute sich keiner heran und so blieb Arie meist unbehelligt.

Aries Stiefmutter Esther teilte ihre große Wohnung nach dem Tod ihres Mannes auf und vermietet im Sommer zwei Zimmer an inländische und ausländische Touristen.

Die beiden Zimmer sind hell und einfach eingerichtet, es riecht in ihnen immer ein wenig nach Mottenkugeln, was dem Gast einen zusätzlichen Eindruck von Sauberkeit vermittelt.

Die Einnahmen, die Esther mit der Zimmervermietung in der Saison erzielt, reichen für den Lebensunterhalt auch im Winter, wenn keine Gäste kommen und sie sich in der großen Wohnung wieder frei bewegen kann.

Esther spricht ein wunderbares Jiddisch, sie stammt ursprünglich aus Polen. Ihr Hebräisch hat einen polnischen Klang und enthält viele originelle jiddische Ausdrücke, wie ‘Scheindel’.






Scheindel heißt so etwas wie Schönheit, sie nannte uns pubertäre Mädchen Scheindel, bot uns immer etwas Leckeres an und fragte mit lachenden Augen, ob wir schon einen ‘Bocher’ haben, einen Jüngling, eine kleine Romanze mit einem Mitschüler vielleicht, oder ob wir schon den netten Jungen von nebenan gesehen hätten. Sie wollte sich mütterlich in unsere Geheimnisse schleichen, liebevoll und offen.

Zilas und mein größtes Problem zu der Zeit war, daß wir die ersten Mädchen in der Klasse waren, die Büstenhalter brauchten. Und niemand war geeigneter, mit uns den geheimgehaltenen Gang in das Miederwarengeschäft zu tun, als die jiddische Mamme Esther. Als wir unsere ersten ‘Brüstlinge’, so heißen Büstenhalter auf Hebräisch, hatten, stiegen sogar ein paar Tränen in ihre lachenden Augen.

Esther geht mit Arie freundschaftlich um, manchmal ein wenig befehlend, weil sie der Käptn ist, wie sie sagt, und er der erste Offizier. Arie liebt Esther und macht ihr Geschenke. Diese Geschenke füllen Esthers Schränke und gehen ihr mit den Jahren auf die Nerven. Er kauft Kittelschürzen, Tischdecken, Küchenhandtücher und Geschirr, immer wieder und immer aus bestem Material. Es sind immer Gegenstände für den Haushalt oder Arbeitskleidung, nie ein Buch, ein Tuch, ein Schmuckstück oder ein Duftwässerchen, denn mit diesen Dingen kann man nichts anfangen, sie sind unnütz und Unnützes braucht man nicht.

Wenn er vom Friedhof nach Hause kommt, ist sein Essen schon bereit, gutes gesundes Essen, niemals ein Rest von gestern und niemals zu wenig. Arie bringt immer einen Bärenhunger mit, betritt die Wohnung, zieht die Schuhe aus, wäscht sich die großen Hände und setzt sich zu Tisch.





Manchmal fragt Esther ihn nach dem Verlauf einer Beerdigung, von der sie gehört hat. Sie will wissen, wieviel Menschen den Toten begleitet haben, was der Rabbi gesagt hat und ob die Tochter aus Amerika auch gekommen ist.

Arie spricht lieber über die Erde an der Grabstelle, ob es leichte, schwere, feuchte oder trockene Erde war; ob das Ausheben der Grabstelle schwerer war als sonst, und wie das Tuch war, in das der Leichnam gewickelt war, denn bei uns wird der Verstorbene nicht im Sarg beerdigt, sondern nur in ein Tuch gewickelt. Damit soll die Auferstehung am jüngsten Tag erleichtert werden, und es soll auch keine Möglichkeit geben, mit prächtigen Särgen auch noch im Tod zu protzen. Es gibt auch eine Beerdigung im einfachen Kasten-Sarg, der im Hebräischen das Wort für ‘Schrank’ heißt. Es gibt keine verschiedene Sargqualitäten, alle Särge sind gleich und nagellos.

Arie erzählt über Kinder, die an einer Beerdigung teilgenommen haben, wie ruhig und versonnen sie sind, wie fest sie dastehen und sich an den Zeremonien nicht beteiligen. Traurig ist er, wenn er über die Beerdigung eines Kindes berichtet, er berichtet eher fragend, will wissen, warum es so früh sterben mußte, andererseits, wenn es sich um alte kranke Menschen handelt, beschreibt er die Gnade, die Erlösung, er atmet für die Verstorbenen fast auf und findet wieder, daß es in der Welt seine Ordnung hat.

Er hat Esther eine Grabstelle zu Lebzeiten besorgt, „nicht an einer Wasserleitung und nicht am Zaun, weil ich rheumatisch bin“ pflegt sie lachend zu sagen.

Arie heißt Löwe, und was die Ruhe angeht, ist Arie tatsächlich wie ein Löwe, nur majestätisch ist er nicht. Ein grobschlächtiger Kerl mit einer empfindsamen Seele, wie das Ungeheuer im Film „Die Schöne und das Biest“, und auch wieder anders.



Als Arie klar wurde, daß er durch normale Begegnungen am Strand, im Cafehaus oder beim Tanzen keine Partnerin für das Leben finden würde, beauftragte er einen Schadchen, einen Heiratsvermittler. Vor diesem wichtige Schritt hatte er sich wochenlang mit Esther beraten, war ihr schon auf die Nerven gegangen, hatte immer wieder erklärt, daß nur ein Mann und eine Frau gemeinsam ein ganzer Mensch sind, so sagt es der Herr, und diese Feststellung wiederholte er so unermüdlich, bis Esther endlich nachgab.

Der Schadchen ist kein Ehevermittler, wie wir ihn hier kennen, er ist vielmehr ein Mann, der durch Sozialarbeit oder andere Tätigkeiten in der Gemeinde einen großen Radius hat und viele Menschen kennt. Durch seine vielfältigen Begegnungen kann er einschätzen, wer zu wem paßt, daß diese Witwe jenen Junggesellen oder diese Waise jenen Witwer als Partner haben sollte. Manchmal macht auch der Rabbi die Schidduchim, die Ehevermittlungen, wenn jemand aus der Gemeinde auf ihn zutritt und ihn direkt darum bittet. Hauptaufgabe des Schaddchens ist es, darauf zu achten, daß sich das künftige Paar nicht durch zu große Verschiedenheit der Herkunft, Armut und Reichtum, Bildung und Unbildung, Frömmigkeit und Glaubenslosigkeit wieder entzweit. Deshalb hört er sich um, holt Informationen ein, befragt die Umgebung und wägt ab.

Bei Arie wußte der Schaddchen gleich, daß es nicht einfach sein würde, denn schließlich denken alle, daß Arie einen Kucku hat. Er befragt Esther genau zu Aries Gewohnheiten und Eigenschaften, so ausdauernd, daß sie wütend wird und ‘er ist ein guter Junge’ sagt, ‘ein guter Junge mit einem goldenen Herzen’. Aber daß jemand ein guter Junge ist, sagt man in Israel nur über Menschen, denen es an Lebenskraft, an Gewöhnlichkeit, an notwendiger Boshaftigkeit fehlt, also auch über Menschen, die einen Kucku haben. „Gib mir ein halbes Jahr Zeit“, sagte der Schaddchen zu Arie, „es wird Zeit brauchen, aber es wird sich schon was finden“.



Das halbe Jahr gefiel Arie nicht, schließlich wird er nicht jünger, aber wenn das so ist, muß man Geduld haben. Arie ging zur Bank und richtete ein Brautkonto ein und sparte jeden Monat 100 Shekel und hoffte, daß er eine gute Frau findet, denn, sagt er und verhaspelt sich gleich wieder „Du weißt schon, mit einer Frau steht und fällt das Haus, ja das Haus und auch der Mann. Eine gute Frau kann Dich aufbauen, eine schlechte Frau kann Dich auch zerstören“, dabei kratzt er sich am Hinterkopf und stöhnt, weil seine Hoffnung auf die Zukünftige sich nicht in ein konkretes Bild verwandeln will.

So mancher von uns in seiner Umgebung fragt ihn hin und wieder, „na, was ist mit dem Schiddech, hat der Vermittler Dir schon ein Mädel vorgestellt?“ Und Arie reagiert erst aufgeregt und beruhigt sich und den Gesprächspartner dann wieder mit einem „es wird schon werden, es wird schon werden!“.

Esther fragt manchmal hinter vorgehaltener Hand, was denn werden wird, wenn sich tatsächlich eine Braut finden würde, was wäre dann mit Aries Gehalt, und überhaupt, wie kann eine Frau mit so einem anspruchslosen Wesen klarkommen...

Und wer will schon einen Totengräber. Arie gegenüber ist sie aber zuversichtlich und ermuntert ihn und bestätigt geduldig, daß alles gut werden würde.

Wie im Stedtl, denke ich manchmal, wenn ich zu Besuch bin, Sitten und Gebräuche wie in der kleinen polnischen Stadt, aus der Esther stammt, da ging nichts ohne den Ehevermittler...

Nach einem dreiviertel Jahr ist Arie weiterhin voller Zuversicht, obwohl der Schadchen sich nicht mehr gemeldet hat, noch nicht mal einen Zwischenbericht erstattet hat.

Esther ist schon ungeduldig und möchte sich die Zukunft konkreter vorstellen können, als es eines Tages an der Tür klingelt und es nicht die erwartete Pediküre ist, sondern der Schaddchen, der Ehevermittler höchstpersönlich.



Er zieht die Schultern hoch, wiegt seinen Kopf, hebt zweifelnd die Augenbrauen und fragt Esther, noch bevor er die Tür hinter sich schließt „Darf es auch eine Sefardische sein? Eine Geschiedene?“ Esther hält ihre Hände vor ihren runden Bauch. „Setzt Euch aweg“, sagt sie auf Jiddisch, „Setzen Sie sich“. Und sie setzt sich zu ihm, auf das bunte Sofa.

Eine Sefardische ist eine orientalische Jüdin, eine Frau die nicht aus Polen, Rußland, Deutschland, sondern aus Spanien, aus dem Jemen oder aus Marokko stammt. Arie und Esther sind Aschkenasen, also europäische Juden, und wenn man eine familiäre Verbindung zwischen Sefarden und Aschkenasen herstellen will, muß man schon extra fragen, ob es recht ist. „Nuuuu“, sagt Esther, „erzähl!“.

Der Schaddchen berichtet über die lange Suche, entschuldigt sich für seine lange Abwesenheit und kommt dann zur Sache: „Sie ist etwas älter als Arie und geschieden ist sie auch, aus dem Jemen kommt sie, eine gute, fromme Frau“ „Und?“ Esther reibt Zeigefinger und Daumen aneinander, „Geld hat sie?“ „Ja, nein,“ der Ehevermittler ist verlegen, „arbeiten tut sie, in der Kleiderfabrik, Geld hat sie nicht, aber sie ist fleißig und gesund, eine gute Frau“.

Esthers Gesicht ist rot vor Aufregung, sie will noch mehr und Genaueres wissen, sie ist so sehr in das Gespräch mit dem Heiratsvermittler vertieft, daß sie nicht bemerkt, daß Arie schon nach Hause gekommen ist und seit einer ganzen Weile zuhört. Der Ehevermittler fragt nach einem Glas Wasser, rückt seine Krawatte zurecht und läßt sich nicht in den Strudel der Fragen reißen. Er bleibt ruhig, beantwortet Frage für Frage, der Reihe nach und schaut erst zu Arie auf, als dieser die Frage stellt: „Wie heißt sie?“ „Rachel“, antwortet der Mann und fügt freundlich hinzu, „wir drei sind morgen bei ihr zum Abendessen eingeladen, ist das in Ordnung?




Ich werde Euch zwei abholen“. Er steht auf, sieht im Flur noch einmal in den Spiegel und läßt Arie und Esther mit der langerwarteten Neuigkeit zurück.

Sie ist Jemenitin“, sagt Arie zu Esther, „wie sind Jemeniten?“ Esther geht ans Telefon und ruft ihre beste Freundin an, die eine jemenitische Putzfrau hat, und fragt sie genau nach den Eigenarten der Menschen aus dem Jemen. Und ob sie zufällig jene Rachel kennt.

Nach dem Telefongespräch schickt sie Arie in eine Drogerie, trägt ihm auf, ein Duftwässerchen zu kaufen, zum Mitbringen, und sich soll er bei dieser Gelegenheit ein wohlriechendes Rasierwasser kaufen. Arie lacht, als er geht, er beeilt sich, bald ist Ladenschluß. In der Drogerie erklärt er der amüsierten Verkäuferin, daß er ein Duftwasser für eine Jemenitin haben will und gar nicht weiß, was die Menschen aus diesem unbekannten Land für Düfte mögen. „Zitronen, frischen Zitronenduft mögen die Orientalen“ sagt sie bestimmt und greift nach einer kleinen, schöngeformten und mit Gold- und Silberstreifen verzierten Flasche.

Packen Sie es bitte besonders schön ein, es ist für meine Braut und ich kenne sie noch nicht einmal“, sagt er hastig, gräbt seine Hände tief in die Hosentaschen und holt das Geld zum Bezahlen heraus.

Als er wieder zu Hause ist, hat Esther schon seine und ihre Kleidung für den morgigen Abend herausgehängt, ihm das Essen hingestellt und einen Termin beim Friseur gemacht.

Auch der Ehevermittler ist festlich gekleidet als er die beiden am frühen Abend des nächsten Tages abholt, und aufgeregt sind sie alle drei.

Rachel wohnt in einer nicht besonders guten Gegend der Stadt Hadera, das sieht man schon daran, daß dort nur Mietshäuser stehen, die Vorgärten ungepflegt sind und die Kinder auf der Straße Fußball spielen, Seil hüpfen, laut lachen und toben.



Der Aufgang zu Rachels Wohnung ist grau, das Licht funktioniert nicht und einige Stufenkanten sind abgebröckelt. Gleich nach ihrem klingeln hören sie Rachel „Moment mal!“ rufen und schon steht sie in der Tür, klein, schwarzäugig, lacht sie an und sagt, „bitte, bitte kommt herein“.

Die Wohnung ist klein und hell, auf dem Boden liegen kleine bunte Teppiche übereinander, an den Wänden goldgerahmte große Bilder, und ein schwerer Knoblauchduft liegt in der Luft, ‘Knoblauch und Zimt’ geht es Esther durch den Kopf, der Tisch ist mit schönem orientalischem Geschirr gedeckt und es gibt mindestens vier verschiedene Salate. „Bitteschön, setzt Euch,“ sagt Rachel freundlich und beim Lachen zeigt sie ihre perlenweißen Zähne.

Sie setzen sich zu Tisch, Arie sieht hin und wieder hilflos zu Esther herüber, die seinen Blick absichtlich nicht auffängt. Mit viel „Bitteschön“ und „Dankeschön“ werden die Gerichte herumgereicht, Rachel holt einen saftigen Lammbraten aus dem Ofen, teilt die Portionen großzügig zu und sagt dann kauend: „Das einzige Problem, das ich sehe, ist, daß Du, Arie, ein Aschkenase bist und ich eine Sefardische, aber Juden sind wir beide, immerhin.“ Esther räuspert sich, sie kann nicht leugnen, daß sie Vorurteile hat, sie senkt ihren Blick wieder auf den Teller und ißt schweigend weiter.

Rachel wischt sich den Mund mit der weißen Stoffserviette, nachdem sie das Besteck hingelegt hat, und fügt hinzu: „und schreiben und lesen kann ich auch nicht, ich habe es nie gelernt“. In Wahrheit kann auch Esther nicht schreiben und lesen, jedenfalls nicht auf Hebräisch, sie kann nur ihren Namen schreiben, das braucht man für die Ämter. Arie ist ruhig, er sieht die Frauen lächelnd an. ‘das Essen wird gewürzter sein, wenn ich sie mir zur Frau nehme’ denkt er, ‘und wir werden uns laut unterhalten, sie ist lebendig und ihr Lachen ist liebenswürdig’.




Der Ehevermittler läßt ein vorsichtiges Gespräch aufkommen, Fragen nach Renten- und Sozialversicherungen klären, es ist ein Gespräch zwischen Esther und Rachel. Arie hat das Geschenk in der Jacke im Flur vergessen, er geht hinaus und kommt gleich wieder, stellt es vor Rachel hin, die sich laut und lachend bedankt. „15 Jahre, ist es bestimmt schon her, daß ich ein Geschenk bekommen habe, da lebten meine Eltern noch...“ „Macht nichts, macht nichts“ sagt Arie aufgeregt. Dann ist es wieder still.

Macht nichts, macht nichts“ sagt Arie immer, wenn jemand sich bei ihm bedankt.

Die Stille ist nicht mehr zu vertreiben, und der Ehevermittler sieht auf die Uhr. „Ja,“ sagt Esther, „dann werden wir mal wieder nach Hause fahren, und, Rachel, kommen Sie nächste Woche am Schabbat-Abend zu uns zum Essen“. Arie freut sich über diese Einladung, die er nicht auszusprechen gewagt hätte, und er freut sich auf die Vorfreude in der kommenden Woche.

Du bist ein WusWus, und sie ist ein KusKus“, sagt Esther, als sie wieder in der eigenen Küche sind. Wus-Wus, kommt vom jiddischen Wort für ‘Was’ und KusKus ist ein orientalisches Hirsegericht, mit diesen beiden Spitznamen belegn sich die aschkenasischen und die sefardischen Juden gegenseitig. „KusKus, WusWus“, sagt Arie aufgeregt, „ist mir egal, ich will diese Frau, und es muß ein Ende, ein Ende muß es haben mit unserer Verschiedenheit“.

Es scheint, als hätte der Schaddchen eine gute Hand gehabt, als er die beiden gegensätzlichen Elemente, die Lebendigkeit von Rachel und die Ruhe von Arie zusammengebracht hat.

Esther läuft in der Küche hin und her, eine Hochzeit ausrichten, was man dabei alles bedenken muß, soll es ein aschkenasischer oder ein jemenitischer Rabbi sein, der die Zeremonie abhält?



Wen kann man einladen, wer wird die Nase rümpfen. Wo soll gefeiert werden? Esther stößt an die Grenzen ihrer eigenen Vorurteile.

Als Rachel am Schabbat-Abend mit einem großen bunten Anemonenstrauß in der Tür steht, ist Arie noch in der Synagoge. Esther öffnet die Tür und begrüßt ihre zukünftige Schwiegertochter mit „komm herein, Scheindel,“ und Rachel antwortet, „ja, jetzt werde ich endlich jiddische Ausdrücke lernen...“

Rachel kann sich mit dem aschkenasischen Essen wie ‘Gefilte Fisch’ nicht befreunden, das ist ein Klops aus Karpfenfleisch und er ist süß, süßer Fisch kommt bei den sefardischen Juden nicht auf den Tisch, auch der Gurkensalat, der mit Dill und Zucker angerichtet wird, ist ihrem Gaumen fremd. „Ich esse alles gern“, sagt Arie kauend, „alles ist vom Herren!“.

So geht es noch drei Monate, die einen lernen die Eigenarten der anderen besser kennen, in politischen Fragen kann man sich oft nicht einigen, aber das Kulinarische ist direkt beeinflußbar und man mutet sich nicht zuviel zu.

Von der Hochzeit wird berichtet, daß ein WusWus-Rabbi und ein KusKus-Rabbi die Zeremonie abgehalten haben, es gab jemenitische und Klezmermusik, Rachel war die schönste Braut des ganzen Orients und Arie ein würdiger Bräutigam. Esther hatte Tränen in den Augen, und ob es Freudentränen oder Abschiedstränen waren, kann sie bis heute nicht sagen, „ich war so aufgeregt wegen der Rabbis“, und sie schneuzt sich wieder. Arie geht seiner Arbeit nach, Rachel ebenfalls. Rachel liebt Arie und sie findet ihn schön, seiner Ruhe wegen, sagt sie. Sie haben eine neue Wohnung genommen, eine große, helle. Im Sommer werden die beiden zum ersten Mal verreisen, nur nach Jerusalem, für drei Tage.







Keiner von ihnen war je in Jerusalem, an der Klagemauer und im Turm Davids, sie kennen die Stadt aus Erzählungen, wissen schon jetzt, wo sie wohnen werden und was sie zu jedem Anlaß anziehen werden, es ist Honeymoon in Jerusalem und es wird wie Honig sein und alle Freunde werden Postkarten bekommen, Postkarten auf denen Arie „Es macht nichts“ geschrieben haben wird und Rachel ihren Namen mit dem neuen Nachnamen druntersetzen wird, denn das hat sie jetzt gelernt, wegen der Unterschriften für die Ämter.

Ein halbes Jahr später, die Jerusalem-Reise ist längst schöne Erinnerung, treffe ich Arie und Rachel bei Esther. Arie sieht immer noch wie früher aus, hat immer noch die tiefen Falten im Gesicht und die hellen rätselhaften Augen.

Rachel hat die Finanzen und die Familienangelegenheiten in die Hand genommen und läßt keinen Zweifel daran, daß sie ihren Willen durchsetzen wird. „Arie ist zu weich und zu gutmütig“, sagt sie „alle denken, sie können mit ihm umspringen, wie sie wollen, aber jetzt haben sie es mit mir zu tun“, und ihre dunklen Augen blitzen, während sie das sagt. Durch die Heirat hat sie eine gesellschaftliche Stellung wiedergewonnen, die sie zu nutzen gedenkt. Arie ist so wie früher, zurückhaltend, wortkarg, friedlich, die winzige Zeitverschiebung zwischen seiner Umwelt und ihm ist immer noch da. Aber es ist auch eine Veränderung zu spüren, seine Friedfertigkeit wirkt weniger beunruhigend, ist selbstverständlicher und vertrauter geworden, sein Beruf ist nicht mehr sein Leben, die Toten sind von den Lebenden eingeholt worden. Alles kommt an seinen vorbestimmten Platz, würde Arie sagen, die Toten auf den Friedhof, die Lebenden in die Familie. Was ver-rückt war, ist zurechtgerückt worden.

Kucku, das war früher.

ENDE